Pressemeldung aus Süddeutsche Zeitung vom 02.11.2012, Seite 19:
Ausgerechnet Stockholm
Die Bahn betreibt zunehmend Nahverkehre im Ausland
Stockholm - Die Tür schließt, die Straßenbahn fährt los - und Hans Nilsson, Chef der Verkehrsgesellschaft Arriva Schweden, beginnt zu erzählen: dass ein Unternehmen von Januar an rund um Stockholm jährlich knapp 100 Millionen Fahrgäste transportieren wird. Dass er dazu 180 Straßen- und Stadtbahnen einsetzen wird sowie 480 Busse. Nilsson erklärt alles ausführlich - und elf deutsche Journalisten hören zu, fragen nach und schreiben mit. Sie sind extra nach Schweden gereist, um sich über diesen Vertrag zu informieren. Um sich rote Busse anzusehen, gelbe Straßenbahnen und einer der Bahnen auch schon mal Probe zu fahren. "Ja, sind sie denn irre?", will man da fragen.
Genaugenommen ist das alles doch nicht wirklich überraschend. Oder hat irgendjemand daran gezweifelt, dass in Stockholm Straßenbahnen fahren? Und Busse? Und S-Bahnen? Sicher nicht. Und doch ist an dem Stadtverkehr in der schwedischen Hauptstadt etwas ungewöhnlich. Der Betreiber ist nicht irgendein skandinavisches Verkehrsunternehmen, sondern ausgerechnet der Konzern, der in Deutschland jahrelang Fahrgäste zur Verzweiflung getrieben hat: die Deutsche Bahn. Oder besser gesagt: ihre Tochter Arriva, in der alle internationalen Nahverkehrsaktivitäten gebündelt sind.
Dieser Tochter war es im November 2011 gelungen, sich den größten Nahverkehrsauftrag in der Geschichte Schwedens zu sichern. Branchenkreise schätzen das Volumen des zwölf Jahre laufenden Vertrags auf 1,75 Milliarden Euro. Mit den ersten Linien hat Arriva bereits im August begonnen. Das komplette Angebot wird von Januar 2013 an gefahren. Der Vertrag sei einzigartig, sagt David Evans, der bei Arriva für Kontinentaleuropa verantwortlich ist. Denn es sei europaweit das erste Mal, dass ein Unternehmen über eine Ausschreibung einen Nahverkehrsvertrag erhalte, bei dem es das Zusammenspiel von Bussen, Straßen- und Schnellbahnen selbständig organisiere. "Dieser Vertrag könnte ein Vorbild für ganz Europa werden", sagt Evans und gerät dabei fast ins Schwärmen.
Im gut 800 Kilometer entfernten Berlin sitzt derweil Anton Hofreiter in seinem Abgeordentenbüro und betrachtet das Ganze deutlich nüchterner. „Natürlich kann ich Arriva zu dem Auftrag nur gratulieren“, sagt der Grünen-Politiker, der dem Verkehrsausschuss des Bundestags vorsitzt. „Allerdings sehe ich es nicht gerade als Aufgabe eines deutschen Staatskonzerns an, den Nahverkehr in Stockholm zu organisieren.“ Mit dieser Meinung steht Hofreiter nicht allein. Kritikern gefiel es von Anfang an nicht, als Deutsche-Bahn-Chef Rüdiger Grube im April 2010 den Kauf des britischen Transportunternehmens bekannt gab. Während Grube damals betonte, dass die Bahn damit auf einen Schlag in zwölf europäischen Ländern Regionalverkehr anbiete, sahen Skeptiker in erster Linie den Preis. Und der hatte es in sich: Ganze 2,8 Milliarden Euro inklusive Schulden zahlte die Bahn für Arriva. Geld, das Verkehrsexperten lieber im Inland investiert gesehen hätten – vor allem im deutschen Schienennetz, das als chronisch unterfinanziert gilt. „2,8 Milliarden Euro, da hätte die Bahn sicher eine Menge Projekte gefunden, in denen das Geld besser aufgehoben gewesen wäre“, sagt Hofreiter.
Doch bislang macht Arriva dem Konzern offenbar überwiegend Freude. „Wir machen in jedem Lang Gewinn“, sagt Arriva-Chef David Martin. „Nur in Malta noch nicht, aber das war auch nicht zu erwarten, da wir dort einen komplett neuen Nahverkehr aufbauen.“ Im vergangenen Jahr trug Arriva mit einem Betriebsgewinn von 160 Millionen Euro (Ebit) immerhin gut zehn Prozent zum Gewinn der Verkehrsparte bei. Und auch im ersten Halbjahr 2012 setze sich der Kurs fort. Zwar spürt das Unternehmen, dass die öffentlichen Auftraggeber sparen müssen, doch insgesamt sei die Entwicklung „sehr erfreulich“, heißt es im Geschäftsbericht. In den nächsten fünf Jahren will Arriva Umsatz und Gewinn verdoppeln. Beispielsweise sei Arriva „im Bieterrennen um den großen Great-Western-Vertrag für Schienenpersonennahverkehr in England“, sagt Ulrich Homburg, der im Vorstand der Deutschen Bahn für den Personenverkehr zuständig ist. Vertragsbeginn wäre 2013. Zudem sei auch Osteuropa interessant, vor allem Rumänien, sowie die Türkei. Auch den Markt im Nahen Osten beobachtet Homburg „sehr genau“.
Im Busverkehr gehört Arriva bereits in mehreren europäischen Ländern zu den führenden Anbietern. So ist das Unternehmen auf dem Londoner Busmarkt die Nummer zwei und auf dem dänischen sogar die Nummer eins. In den Niederlanden gewann Arriva kürzlich zwei Ausschreibungen. Und sogar Wasserbusse betreibt das Unternehmen, etwa im dänischen Kopenhagen. „Schön für Dänemark“, sagt Hofreiter. „Aber ich bleibe dabei: Das zählt nicht zu den Aufgaben eines Konzerns, der zu 100 Prozent dem deutschen Staat gehört.“
Die Bahn dagegen hält die Expansion für wichtig. Grube hatte den Kauf von Arriva nicht zuletzt damit begründet, dass die Bahn in Deutschland schrittweise Marktanteile verliere, weil im Zuge der Liberalisierung immer mehr Wettbewerber anträten. Zum Ausgleich müsse der Konzern im Ausland wachsen. Holger Krawinkel, Bahnexperte beim Bundesverband für Verbraucherzentralen, hat dafür Verständnis: „Wir profitieren ja auch davon, dass die Töchter ausländischer Staatsbahnen im deutschen Regionalverkehr für Wettbewerb sorgen“, sagt er. „Dann kann man sich eigentlich nicht beschweren, wenn die Bahn im Ausland dasselbe macht.“ DANIELA KUHR